Selmas Leben war kurz. 18 Jahre lang hat sie gelebt. Selma Meerbaum-Eisinger starb am 16. Dezember 1942 im deutschen Arbeitslager Michailowska. Was übriggeblieben und auf abenteuerliche Weise gerettet worden ist, sind 57 Gedichte.
Selma Meerbaum-Eisinger gehört zusammen mit Rose Ausländer und Paul Celan zum literarischen Dreigestirn von Czernowitz. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verfolgung schrieb die junge Lyrikerin Gedichte, die in ihrer zeitlosen Ästhetik weit mehr als nur ein Zeugnis der drohenden Vernichtung des osteuropäischen Judentums und seines blühenden kulturellen Lebens sind. Die Poesie Selma Meerbaum-Eisingers drückt Sehnsucht, Hoffnung und Lebenswillen aus, was ihrem Werk eine immerwährende Gültigkeit und zeitübergreifende Aktualität verleiht. In reiner, klarer, eindringlicher Sprache erzählen die Gedichte von den Gefühlen und Träumen eines jungen Mädchens an der Schwelle des Erwachsenwerdens und über das zarte Glück der ersten Liebe. Die Ehrfurcht vor der Schönheit und lebendigen Kraft der Natur sind genauso Thema wie die Allgegenwärtigkeit von Tod und Trauer.
Trotz ihres sehnsuchtsvollen Grundtenors sind die Gedichte mehr als die schwärmerische Liebeslyrik eines jungen, lebensfrohen Mädchens, mehr als Nachahmungen der Naturdichtung ihrer romantischen Vorbilder Rilke, Heine und Tagore und mehr als eine Dokumentation der Vernichtung jüdischen Lebens in der Bukowina. Das Werk Meerbaum-Eisingers verdankt seine Faszination der Spannung zwischen mädchenhaft-jugendlicher und gesellschaftlich-historischer Thematik, seiner Bandbreite von Motiven und Bildern sowie der Eigenständigkeit in seiner formalen Umsetzung und Ästhetik. So spricht Rose Ausländer selbst über die Lyrik ihrer Dichterkollegin von "Weltliteratur, die die Welt nicht kennt".
Selma liebte Blumen und die Natur. Sie liebte Rilke, Heine und Tagore. Sie liebte den Sommer, und im Sommer schrieb sie über den Herbst. Oft stand sie lange an einen Baumstamm gelehnt, den Blick in die Ferne gerichtet, abwesend hier und anwesend dort, wo Träume geboren wurden. Selma wußte, daß die Stadt, in der ihre Träume hätten Wirklichkeit werden können, “nun ganz fern ist, wie ein Bild aus einem alten Märchen.” In ihrem Gedicht “Rote Nelken” sagt sie es beinahe entschuldigend, so, als ob sie sich damit abgefunden hätte, daß es ihr nicht mehr zustünde, diese Sehnsucht, dieser Wunsch nach Lachen und Glücklich sein:
“So hör, ich hab’ für dich gelacht.”
Und doch beendet sie einen Brief an ihre Freundin Renée Abramovici, den letzten, den sie in ihrem Leben schreiben wird, mit den Worten: “Küße. ChasakSelma.” Chasak ist Hebräisch und heißt: “Sei stark.”
Renée Abramovici gelang die Flucht. Zu Fuß, mit dem Pferdewagen, auf Dächern von Personenzügen schlug sie sich quer durch Europa; durch Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, durch Oesterreich und Deutschland, nach Paris. 1948 erreichte sie auf dem Schiffsweg Israel, in ihrem Rucksack trug sie Selmas handgeschriebenen Gedichtband “Blütenlese”.
“Mit Selmas Gedichten habe ich die Heimat herumgetragen und hierher gebracht”.
“Und hast du auch noch tausend Sterne in der Hand sie kann noch zehnmal tausend tragen”, heißt es in einem von Selmas Gedichten. Sie sprechen von ihrer Liebe und von der Ahnung, daß sie sich nicht erfüllen wird. Die deutsche Lyrikerin Hilde Domin über Selma: “Ihre Begabung steht sicher auf einer Stufe mit dem jungen Hofmannsthal. Trotz des Sonderschicksals ist dies ein Werk, das deutlich ins Gut der deutschen Poesie gehört, nicht der spezifisch jüdischen. Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht”.
Anlässlich der Musik-CD veröffentlichte der Hoffmann&Campe Verlag im Herbst 2005 eine gebundene Jubiläumsausgabe des Gedichtbandes “Ich bin in Sehnsucht eingehüllt” sowie das Hörbuch mit Gedichtrezitationen, gesprochen von Iris Berben.
Blütenlese
Ein 1968 in der DDR erschienenes Buch sorgte für die Entdeckung von Selmas Gedichten. Der Herausgeber hatte durch Zufall zwei ihrer Gedichte in Bukarest gefunden.Eines druckte er ab, ohne zu ahnen, was er damit in Bewegung brachte. Hersch Segal, 1940 Selmas Klassenlehrer, las dieses Buch in Israel und wandte sich an seine ehemalige Schülerin Renée Abramovici-Michaeli, die ihm von Selmas Gedichtband erzählte.
Hersch Segal hat alle erhalten gebliebenen Gedichte Selmas nach dem Krieg unter dem Namen “Blütenlese” als Privatdruck herausgebracht. Einen Verlag für eine Buchveröffentlichung fand Segal nicht. Er ließ 400 Büchlein auf eigene Kosten drucken.
Danach galten die Gedichte Jahrzehnte lang als verschollen, bis der Journalist, Autor und Exilforscher Jürgen Serke Selmas Spur aufnahm und 1985 ihre Gedichte unter dem Titel “Ich bin in Sehnsucht eingehüllt” veröffentlichte. Gewidmet hatte Selma ihren Gedichtband dem ein Jahr älteren Lejser Fichman.
Ein Buch kommt in Deutschland an
Vorwort der Neuauflage des Gedichtbands "Ich bin in Sehnsucht eingehüllt" eingeleitet von Jürgen Serke September 2005Heute gehört sie zum literarischen Dreigestirn der Stadt Czernowitz, das die Namen Paul Celan, Rose Ausländer und Selma Meerbaum-Eisinger trägt. Czernowitz war jene deutschsprachige Insel aus Zeiten der Habsburgermonarchie, die durch den Vernichtungsfuror Hitler-Deutschlands unterging. Zu den Opfern des Holocaust gehörte auch die 18jährige Selma Meerbaum-Eisinger. Und nichts deutete darauf hin, daß sie mehr sein würde als eine Zahl in den Todeslisten der Nazis. Doch zwei Freundinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel gelangten, wahrten Seimas Gesicht, bewahrten ihre Gedichte, die sie gerettet hatten und in ihren Herzen verwahrten. Deutsch, die Sprache der Mörder, war lange Zeit in Israel eine tabuisierte Sprache. An eine Veröffentlichung der deutschen Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger war vorerst in Israel nicht zu denken.
Von Bukarest gelangt 1968 ein Gedicht Selma Meerbaum-Eisingers nach Ostberlin in die von Heinz Seydel herausgegebene Anthologie »Welch Wort in die Kälte gerufen«. Israel Chalfen, der Autor einer Biographie über Paul Celans Jugend, berichtet: »Paul Celan hat dem Abdruck seiner >Todesfuge< in diesem Band vor allem deshalb zugestimmt, um damit seiner Verwandten Selma Meerbaum ein Denkmal zu setzen.« In Israel liest Selma Meerbaum- Eisingers einstiger Klassenlehrer Hersch Segal das »Poem« in der DDR-Anthologie, sucht nach den Freundinnen des toten Mädchens und findet sie im Lande. Auf eigene Kosten einen Verlag findet er nicht druckt er 1976 sämtliche Gedichte in einer Auflage von 400 Exemplaren. Ein Privatdruck. Ein weiterer Versuch mit Selma Meerbaum-Eisinger 1979 bleibt im universitären Bereich. Der Band erscheint im Verlag der Tel Aviv University. Hilde Domin drückt mir bei einem Besuch in Heidelberg den von Hersch Segal herausgegebenen Privatdruck in die Hand und sagt: »Lies mal!« Ich mache mich auf den Weg nach Israel und schreibe für den Stern am 8. Mai 1980 »Die Geschichte einer Entdeckung«, die am Ende dieses Buches abgedruckt ist. Der Hoffmann und Campe Verlag bringt die Gedichte noch im Herbst 1980 heraus.
Ein Buch kommt in Deutschland an. Die Resonanz der Medien ist groß. Das Buch geht in die zweite Auflage und ins Taschenbuch von S. Fischer, wo es weitere 14 Auflagen erlebt. Der Erfolg von 1980 ist nicht zu denken ohne meine Stern-Serie »Die verbrannten Dichter« im Jahre 1976 und das gleichnamige Buch ein Jahr später, das der Wiederentdeckung der von den Nazis verfolgten deutschen Literatur den Boden bereitete. Die Serie im Stern war, wie ich im Editorial schrieb, »als Aufwiegelung der Leser gegen die Verleger« gedacht, »die Werke der zu Unrecht Vergessenen endlich wieder zu veröffentlichen«. Noch nie hatte sich ein Massenmedium in der Bundesrepublik so intensiv dieses Themas angenommen. Die Reaktion der Leser war überwältigend: Zustimmende, ja euphorische Leserbriefe kamen waschkörbeweise in der Redaktion an. Die Verlage druckten die Originalwerke der »verbrannten Dichter« neu. Selma Meerbaum-Eisinger und ihre Gedichte waren die Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte. Ein Vierteljahrhundert blieben sie wie auch die »Verbrannten Dichter« ununterbrochen im Handel. Ihre Gedichte wurden auf unzähligen Literaturveranstaltungen rezitiert. Sie wurden mehrfach vertont. Als erste sang sie die Berlinerin Ana Fonell 1985 in der musikalischen Interpretation von Johannes Conen. Ihr Gesang kam auf einer Schallplatte heraus.
In der DDR wurden einige Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers 1981 in der berühmten Gedichtreihe »Poesiealbum« gedruckt. 1986 erschien der Gedichtband in Japan und erlebte 1999 eine zweite Auflage. In russischer Übersetzung und im deutschen Original erschien 2000 eine Privatausgabe in Kiew. 2006 erscheint das Buch in holländischer Übersetzung. Drei Theaterstücke wurden über Selma Meerbaum-Eisinger geschrieben. Sie wurden in Wilhelmshaven, Frankfurt/Main und zuletzt 2001 im Stadttheater Fürth uraufgeführt. Bei Lesungen, die die Verfolgung von Dichtern zum Thema haben, gehören ihre Gedichte längst zum Repertoire. Aus Anthologien ist ihr Name nicht mehr wegzudenken. Ulla Hahn hat sie beispielsweise in das Reclam-Buch »Stechäpfel. Gedichte von Frauen aus drei Jahrtausenden« aufgenommen. Auch die Lexika haben Selma Meerbaum-Eisinger inzwischen verzeichnet. Nicht zuletzt setzen die Schulbuchverlage Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger ein. Die Palette reicht vom Buch für Deutschlernende bei EF International Language Schools B.V. bis zu Schöninghs »Blickfeld Deutsch«.
Als ich mich vor einem Vierteljahrhundert auf die Recherche-Reise nach Israel machte, um die Lebensdaten und Lebensstationen bei den dort lebenden Czernowitzern zusammenzutragen, schickten sie mich von Wohnung zu Wohnung, von Ort zu Ort, als ob ich nur, wie man unter ihnen sagte, zum »Butterbrot« kommen sollte. Die Sehnsucht nach dem Geburtsort Czernowitz war geblieben. Irgendwie waren sie alle einsam und suchten in mir das vertraute europäische Fluidum. Eine merkwürdige Situation.
Im Herbst 2005 habe ich nach Israel zurückgebracht, was ich an Materialien Erstausgaben, Widmungsexemplare, Briefe, Dokumente, Manuskripte und Fotos zusammengetragen hatte, um meine Bücher über Verfolgung und Exil schreiben zu können. Die Ausstellung trug den Titel »Liebes- und Musengeschichten. Das fragile Glück im Unglück von Verfolgung und Exil«. Eine der Vitrinen war dem Leben und Werk Selma Meerbaum-Eisingers gewidmet. Andreas Wilink schrieb in der Süddeutschen Zeitung über die Ausstellung, die bereits in Solingen, Berlin, Breslau und Prag gezeigt wurde: »Abbrechende Linien bei Selma Meerbaum-Eisinger, die keine 18 ist, als sie in einem SS-Arbeitslager umkommt und deren berühmtes Gedicht >Tragik< wie ein Testament klingt.
Wurden sie und die anderen nicht zweimal getötet? Auf den physischen Tod folgte das Verlöschen der Erinnerung an sie und ihr Werk. Die Liebe als Aufschub ihrer Fahrt in den Tod verhilft ihnen zum Weiterleben.« Ein Vierteljahrhundert nach der ersten Ausgabe von Selma Meerbaum-Eisingers Gedichtband »Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund« in Deutschland liegt nun diese Jubiläumsausgabe vor mit dem Blumenbild des Albums, in das Selma ihre Gedichte schrieb. Außerdem bietet Hoffmann und Campe ein Hörbuch an, auf dem Iris Berben die Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers liest. »The World Quintet«, eine Gruppe Schweizer Juden, hatte bereits 2003 mit einer CD Aufsehen erregt, auf der zwischen Instrumentalstücken Herbert Grönemeyer ein von David Klein vertontes Selma-Gedicht (»Trauer«) sang. Nun liegen unter dem Titel »In Sehnsucht eingehüllt« zwölf weitere vertonte Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers auf einer neuen CD vor. Es singen: Sarah Connor, Xavier Naidoo, Yvonne Catterfeld, Volkan Baydar, Joy Denalane, Reinhard Mey, Inga Humpe, Hartmut Engler, Thomas D., Stefanie Kloss, Jasmin Tabatabai und Ute Lemper. »Ich träume, atme, lebe, singe mit Selma«, sagt David Klein, Jahrgang 1961, der Schlagzeuger des Quintetts. Und er sagt auch: »Wir vergessen nicht Seimas Lebensbedrohung. Aber wir sehen sie in unseren musikalischen Interpretationen als eine junge Frau, die ihre Liebe so intensiv lebt, wie es heute die jungen Menschen auch tun. Sie gehört ihnen.«
Heute lebt Selma Meerbaum-Eisinger nicht nur in ihren Gedichten fort der »Selma Meerbaum-Eisinger Fonds«, den ihre Erben an der Universität Tel Aviv einrichteten und in den alle Einnahmen aus Rechten und Tantiemen fließen, unterstützt bedürftige jüdische Studenten.
Jürgen Serke, September 2005
Geschichte einer Entdeckung
Vorwort der Erstausgabe des Gedichtbands "Ich bin in Sehnsucht eingehüllt" eingeleitet von Jürgen Serke Oktober 1980.Spurensicherung, weit entfernt von Deutschland, in Czernowitz, einer Stadt im Osten. Darin lebte ein Mädchen, das Gedichte über eine Liebe schrieb, die mehr ein Traum denn Wirklichkeit war. Es war die erste Liebe, zu einem jungen Mann und zu einer Sprache, die nicht die Landessprache Rumänisch war. Deutsch nannte das Mädchen sein eigen.
Selma Meerbaum-Eisinger war eine Jüdin. Deutsche nahmen ihr die Freiheit, Deutsche nahmen ihr das Leben. Sie starb am 16. Dezember 1942 im deutschen Arbeitslager Michailowka jenseits des Bug. Sie war 18 Jahre alt, wurde irgendwo verscharrt.
Dem Tod den Anspruch auf Leben entziehen.
Was übriggeblieben und auf abenteuerliche Weise von Leidensgefährten gerettet worden ist, sind 57 Gedichte. In ihnen versucht sie, die Wirklichkeit, an der sie zerbrach, zu verwandeln in eine Arche Noah. Ausgesetzt, aber mit Hoffnung auf Rettung. Gedichte, die ein Stück Weltliteratur sind, aber die Welt kennt sie nicht. Letzter Vers eines Gedichtes, das Selma Meerbaum-Eisinger als 17jährige ein Jahr vor der Deportation schrieb:
Du, weißt du, wie der Regen weint,
und wie ich geh" erschrocken bleich,
und nicht weiß, wohin zu flieh"n?
Wie ich verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es mein Reich, ist es nicht mein Reich,
gehört die Nacht mir, oder ich, gehör" ich ihr,
und ist mein Mund, so blaß und wirr,
nicht der, der wirklich weint ... ?
Wer in Zukunft von Anne Frank spricht, wird auch von Selma Meerbaum-Eisinger sprechen müssen. Wie von zwei Schwestern, von denen die eine dokumentierte, was die andere dichtete. Das Tagebuch der Anne Frank, im holländischen Versteck verfaßt, und die Gedichte der Selma Meerbaum-Eisinger gehören zusammen. Anne Frank, die 15 Jahre alt wurde, kam im März 1945 im KZ Bergen-Belsen um. Sie starb an Typhus, wie Selma zwei Jahre zuvor, 2000 Kilometer weiter östlich.
Poem
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein.
Nein...
»Welch Wort in die Kälte gerufen«, heißt ein Buch mit der Unterzeile »Die Judenverfolgung des Dritten Reichs im deutschen Gedicht«. Darin ist dieses »Poem« abgedruckt. »Welch Wort in die Kälte gerufen« - das ist eine Anthologie, die 1968 im Ostberliner Verlag der Nation erschien, herausgegeben von dem Schriftsteller Heinz Seydel. Vor vier Jahren entdeckte ich die Gedichtsammlung im Katalog eines Hamburger Antiquariats und kaufte sie.
Ein Stempel nannte den Vorbesitzer: Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Wirtschaft und Technik. Wissenschaftliche Bibliothek. Ein weiterer Stempel mit der Aufschrift »Gelöscht« zeigte, daß das Buch wieder ausgesondert worden war. Heinz Seydel, der Herausgeber der Anthologie, glaubte, daß nur zwei Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger gerettet worden seien. Er hatte sie aus Bukarest von ehemaligen Bewohnern der Stadt Czernowitz erhalten.
Im Februar dieses Jahres drückte mir die Lyrikerin Hilde Domin aus Heidelberg einen Gedichtband in die Hand, der in Israel als Privatdruck erschienen war: »Blütenlese«. Die Autorin: Selma Meerbaum-Eisinger. Unter den 57 Gedichten befand sich auch das von Seydel gedruckte »Poem«. Hilde Domin, nach Deutschland zurückgekehrte Emigrantin, hatte den Band von einer in den USA lebenden Cousine des Dichters Paul Celan erhalten. Dazu den Hinweis, daß Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger mütterlicherseits denselben Urgroßvater hatten.
Wer in der deutschen Literaturszene bisher »Czernowitz« sagte, meinte den Lyriker Paul Celan, der heute zu den großen Nachkriegsdichtern gehört, und die Lyrikerin Rose Ausländer, die heute in einem jüdischen Altersheim in Düsseldorf lebt. Paul Celan ist über den Tod seiner Eltern, die sich in Czernowitz nicht verstecken mochten wie ihr Sohn und im Lager Michailowka durch Genickschüsse von SS-Leuten ermordet wurden, nie hinweggekommen. In der »Todesfuge« steht:
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland
sein Auge ist blau
er triffift dich mit bleierner Kugel
er trifft dich genau.
Paul Celan, zuletzt wohnhaft in Paris, nahm sich 1970 das Leben. Er wurde 50 Jahre alt.
Czernowitz, die Stadt des Paul Celan und der um vier Jahre jüngeren Selma Meerbaum-Eisinger, hatte 140000 Einwohner, fast die Hälfte Juden. Sie war die Metropole des Vielvölkerlandes Bukowina, in dem Ukrainer, Rumänen, Polen, Ungarn, Slowaken, Armenier und Zigeuner wohnten. Bis 1918 ein Vorposten der Habsburger Monarchie mit deutscher Universität in Czernowitz. Danach rumänisch, ab 1940 für ein Jahr sowjetisch, dann von den nach Rußland einmarschierten deutschen Truppen wieder den verbündeten Rumänen zugeschanzt. 1944 von den Sowjets zurückerobert und seitdem der UdSSR zugehörig.
In Rechovot, 20 Kilometer von Tel Aviv entfernt, wohnt seit 1962 der 74jährige Pädagoge Hersch Segal. Ihn suche ich als ersten in Israel auf. Hersch Segal hat den Privatdruck mit den Gedichten des Mädchens Selma herausgebracht, 400 Exemplare verschenkt und verschickt an Freunde und Bekannte. Hersch Segal war 1940 der Klassenlehrer Selmas im jüdischen Lyzeum von Czernowitz. Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt er Kontakt zu den wenigen einstigen Schülerinnen, die die Verfolgung überlebt hatten. Und er sammelte, was Czernowitz an Literatur hervorgebracht hatte.
Der Abdruck des einen, einzigen Gedichtes in der DDR-Anthologie ließ dem pensionierten Lehrer keine Ruhe mehr. Er setzte sich mit zwei Freundinnen Selmas in Verbindung, die in seiner Nähe wohnten. Die eine besaß 57 Gedichte Selmas, die andere einen aus dem Lager herausgeschmuggelten Brief. Einen Verlag für eine Buchveröffentlichung fand Segal nicht. Er ließ sämtliche erhalten gebliebene Gedichte Selmas auf eigene Kosten drucken.
Selma Meerbaum-Eisinger wäre heute 55 Jahre alt, wie ihre Freundin Renée Abramovici-Michaeli, die in Natanya, einem Badeort zwischen Tel Aviv und Haifa, wohnt, als Bankangestellte arbeitet und in ihrer Bank die Gedichte Selmas in einem Tresor aufbewahrt. Lose Blätter, zusammengehalten von einer Kordel. Auf dem Einband des Albums ein Blumenmuster. Die Gedichte, fast alle datiert, sind mit Bleistift geschrieben. Winzige Schriftzüge. Einige Seiten sind leer. Ihr letztes Gedicht in dem Album lautet:
Das ist das Schwerste: sich verschenken
und wissen, daß man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.
Darunter mit rotem Stift und hastig dahingeworfenen Lettern: »Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben ... « Selma wurde an einem Juni-Sonntag im Jahre 1942 deportiert.
Gewidmet ist Selmas Gedichtband dem ein Jahr älteren Lejser Fichman, den sie in der zionistischen Jugendbewegung Haschomer-Hazair in Czernowitz kennengelernt hatte. Eine Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann, der sich zielbewußt auf seine Auswanderung nach Palästina vorbereitete, und einem Mädchen, das bei aller Träumerei das Glück in Czernowitz wollte, das greifbare Glück.
»Und hast du auch noch tausend Sterne in der Hand - sie kann noch zehnmal tausend tragen«, heißt es in einem ihrer Gedichte. Sie sprechen von ihrer Liebe und von der Ahnung, daß sich nichts erfüllen wird. Sie erzählen die Geschichte einer jungen Frau, die sich auf das Leben versteht, und eines jungen Mannes, der das Leben in die Zukunft verlegt. Das bessere Leben in Palästina.
Komm zu mir, dann wieg"ich dich,
wiege dich zur Ruh".
Komm zu mir und weine nicht,
mach die Augen zu.
Selma und der Versuch, eins zu werden mit Lejser Fiehman durch die Worte hindurch. In Gedichten, die der Freude ihren Glanz geben, dem Wahren seine Gewißheit und der Trauer ihre Endgültigkeit.
Stephan Hermlin aus der DDR spricht von »erschütternden Gedichten« und schrieb an Selmas einstigen Klassenlehrer Hersch Segal, der ihm den Privatdruck geschickt hatte: »Es ist gut zu wissen, daß es Menschen gibt, die in der Ferne und unter schwierigen Umständen dafür sorgen, daß eine schmale, kaum wahrnehmbare Spur nicht vergeht.«
Hilde Domin aus der Bundesrepublik urteilt über die Gedichte des Mädchens: »Seine Begabung steht sicher auf einer Stufe mit dem jungen Hofmannsthal. Trotz des >Sonderschicksals< ist dies ein Werk, das deutlich ins Gut der deutschen Poesie gehört, nicht der spezifisch jüdischen. Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.«
Erinnerungen. In Haifa lebt heute der 85jährige Onkel Selmas. Josef Meerbaum erzählt von seinem Bruder Max, Selmas Vater, der 1926 in Czernowitz mit 29 Jahren an Tuberkulose starb. Da war Selma eineinhalb Jahre alt. Ihr Vater stammte aus einem Dorf in der Bukowina. Nach der Volksschule, mit 15, ging er nach Berlin. Dort besaß ein Onkel ein Geschäft. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Max Meerbaum in der österreichischen Armee und erkrankte an Tuberkulose. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus beratschlagten die Brüder, was zu tun sei.
»Max«, so erzählt Josef, »ist nach Czernowitz gegangen, um einen Laden zu suchen. Nach Czernowitz deshalb, weil da deutsch gesprochen wurde, obwohl es ja nun zu Rumänien gehörte. In der Stadt sah er eine kleine Fensterauslage. Rechts lag was drin, Hefte, Zwirne, Nadeln, Kleinigkeiten. Links war alles leer. Max ging hinein und fragte die junge Frau, ob er die leere Hälfte mieten könne. Er wolle dort Schuhe und Sandalen verkaufen. Die beiden verliebten sich, heirateten und bekamen Selma.« Nach dem Tode Max Meerbaums heiratete dessen Frau Frieda einen Mann namens Leo Eisinger. Er kam wie Selmas Mutter und Selma ebenfalls im Lager Michailowka um.
Renee Abramovici-Michaeli war neun, als sie sich mit Selma befreundete. »Selma ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen«, erzählt sie. »Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater im Süden der Stadt am Fuße der Habsburghöhe. Die Wohnung bestand aus einer Küche und einem großen Zimmer. Man ist reingekommen durch einen langen Gang, ein paar Stiegen führten in den ersten Stock direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es nicht. Im großen Zimmer standen die Ehebetten. Am Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief, dann zwei Schränke und dazwischen ein kleiner Schreibtisch für Selma. Kein fließendes Wasser, kein Bad.«
Renée Abramovici-Michaeli über ihre Freundin Selma: »Sie war 1,60 Meter groß, hatte braune Augen, gekräuseltes brünettes Haar. Solange sie Zöpfe tragen mußte, gab es zwischen ihr und ihrer Mutter morgens immer Krach. Die Mutter bürstete und flocht das Haar. Die Prozedur war zeitraubend, so daß wir Mühe hatten, rechtzeitig in die Schule zu kommen.«
Selma begann mit 15 Jahren Gedichte zu schreiben. Sieben davon schrieb sie in ihr Album »Blütenlese«, darunter »Stille«. »Sie hat selten ihre Gedichte gezeigt«, erinnert sich Renée Abramovici-Michaeli, die mit Selma in der Klasse auf der letzten Bank saß. »Wenn Selma der Unterricht nicht interessierte, ist sie unter die Bank gerutscht und hat dort gelesen, was ihr Spaß machte.« Gelesen hat sie Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Paul Verlaine und die damals populären indischen Weisheiten des Rabindranath Tagore. »Begeistert war sie von Klabunds Nachdichtungen chinesischer Gedichte, die sie bei meiner Mutter fand.«
Unter den 57 Gedichten, die der Band »Blütenlese« enthält, befinden sich fünf Nachdichtungen von Gedichten anderer: zwei von Verlaine, zwei der jiddischen Dichter Itzik Manger und H. Lejwik und eines von dem Rumänen Discipol Mihnea.
Die Unterrichtssprache in der Schule war rumänisch. Zu Hause und unter den Freunden und Freundinnen wurde deutsch gesprochen, auch in der zionistischen Jugendbewegung. Dort wurde über Sigmund Freud diskutiert, über Bertolt Brecht und Franz Kafka. Der Sozialismus sollte die Grundlage für ein künftiges Leben in Palästina werden.
Die heute 56jährige Else SchächterKeren aus dem Tel Aviv angrenzenden Ramat Gan berichtet, wie verstört Selma den Vortrag eines ihrer Gedichte in der zionistischen Gruppe abbrach, als die meisten sie auszulachen begannen. Das war der Beginn der Freundschaft zwischen ihr und Selma. Else Schächter-Keren: »Ich fand ihre Gedichte schön, ich sagte es ihr, ich begleitete sie nach Hause. Sie war immer in Bewegung. Abends um zehn kam sie noch zu unserem Haus und pfiff mich raus. >Der Tag ist doch so groß, warum müßt ihr abends so spät spazieren gehen<, sagte meine Mutter, und Selma lachte, sagte: >Lassen Sie uns doch(. - Sie tanzte sehr gern, war die Ausgelassenste in der zionistischen Gruppe. Sie wollte jeden Moment ausleben. In der Gruppe hat sie auch Lejser Fichman kennengelernt, der sie oft nach Hause begleitete, und mit dem sie auf der Habsburghöhe im Süden der Stadt spazieren ging.«
Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Deutschland überfiel Polen. Am 28. September teilten Deutsche und Sowjets Polen auf, Am 10. Mai 1940 begann der deutsche Angriff im Westen. Am 22. Juni desselben Jahres unterschrieb Frankreich seine Kapitulation. Am 26. Juni erzwang die Sowjetunion von Rumänien die Abtretung Bessarabiens und der Nord-Bukowina mit Czernowitz.
Die Freundinnen Selmas erinnern sich, wie man sich in der Stadt der Bedrohung durch die Nazis verschloß. Frau Schächter-Keren sagt: »Das war für uns damals wie ein schreckliches Autounglück. Wir dachten, das hat die anderen getroffen, uns trifft das nie.« Frau Abramovici-Michaeli sagt: »Aus unserem Klassenzimmer konnten wir damals in die Mensa der Universität schauen. Wir haben gesehen, wie jüdische Studenten verprügelt wurden, und wir haben erfahren, daß man einen von ihnen gezwungen hat, aus einem Fenster im dritten Stock des Gebäudes zu springen.
Als die Rumänen Czernowitz an die sozialistische Sowjetunion abtreten mußten, haben wir zuerst gedacht, jetzt wird alles besser. Wir haben ja an den Sozialismus geglaubt. Der Enthusiasmus beim Einmarsch der russischen Truppen war groß. Doch dann haben auch die Russen viele Juden verschleppt.« Allein am 13. Juni 1941 wurden 4000 Männer, Frauen und Kinder als »unzuverlässige Elemente« nach Sibirien deportiert. Am 22. Juni griff Deutschland, gemeinsam mit Rumänien, die UdSSR an. Am 5. Juli 1941zogen rumänische Truppen in Czernowitz ein und waren fortan die Handlanger bei der Verfolgung der Juden. Die Juden von Czernowitz verloren die Bürgerrechte. Sie mußten den gelben Judenstern tragen, unbezahlte Zwangsarbeit leisten, hatten ab sechs Uhr abends Ausgehverbot. Ein Getto hatte es in der Geschichte der Stadt nie gegeben. Jetzt wurde es errichtet. 60000 Juden wurden auf kleinstem Raum zusammengepfercht. Else Schächter-Keren sah, wie Selma mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater im November unter einem Arkadengang hauste, der notdürftig mit Decken verhängt war. Sie erfuhr, wie Selma aus dem Getto floh, in der Stadt als Jüdin erkannt und verfolgt wurde, sich dabei ein Bein brach und dennoch das Getto wieder erreichte.
Selmas Freund Lejser Fiehman leistete Zwangsarbeit außerhalb der Stadt. Selma sah ihn nicht wieder.
O lege, Geliebter,
den Kopf in die Hände
und höre, ich sing" dir ein Lied.
Ich sing" dir von Weh und von Tod und vom Ende,
ich sing" dir vom Glücke, das schied.
Das Getto in Czernowitz wird aufgehoben. Ohne die jüdische Bevölkerung ist die Stadt nicht lebensfähig. Aber die Deportationen durch die Rumänen in rumänische Arbeitslager diesseits des Bug, in deutsche jenseits des Flusses halten an. Die Rumänen bekommen ihre Weisungen vom SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, Otto Oblendorf, dem berüchtigten Chef der Einsatzgruppe D. Zweimal entgeht die Familie Meerbaum-Eisinger den »Aushebungen«. Das drittemal nicht. Ein junger Mann klopft an die Wohnungstür der Familie Schächter. Else öffnet. In der Hand hat der Unbekannte ein Album: »Ich soll Ihnen das von Selma geben. Sie hat es mir zugesteckt, als man sie heute mit ihren Eltern holte. Sie möchten das Album an Selmas Freund Fichman weiterleiten.«
Als Lejser Fiehman für ein paar Tage nach Czernowitz zurückkehrt, erhält e das ihm »in Liebe« zugedachte Album Er nimmt es mit zur Zwangsarbeit und verwahrt es unter seinen Sachen im Lager. Bis 1944. Kurz bevor die Rote Armee Czernowitz kampflos einnimmt, flieht er aus dem rumänischen Arbeitslager, sucht Selmas Freundin Else in Czernowitz auf und läßt ihr das Album mit den Worten zurück: »Wer weiß, wie es unter den Russen wird. Ich will nicht noch einmal von Palästina abgeschnitten sein. Aber ich will auch nicht, daß die Gedichte Selmas verlorengehen, wenn ich es nicht schaffe.«
Der 21jährige Lejser Fiehman schaffte es nicht. Er gelangte nach Bukarest und bis an das Schwarze Meer. Am 5. August, dem 20. Geburtstag Selmas, wurde das mit jüdischen Flüchtlingen besetzte türkische Schiff »Mefkure« von dem sowjetischen U-Boot SC-215 versenkt. Die Eltern Lejser Fichmans und sein Bruder gelangten auf anderen Wegen nach Israel. Der Bruder kam ums Leben, als bei einer Feier der Fallschirmspringer in Israel ein Flugzeug abstürzte. Der Sohn des Bruders fiel im Jom-Kippur-Krieg. Lejser Fichmans Mutter kam bei einem Autounfall um. Ihr Mann starb vor Gram.
Selma Meerbaum-Eisinger und ihr Weg in den Tod. Sie kam in das Lager Cariera de piatra westlich des Bug. Eine Sammelstelle für Arbeitskräfte, die von deutschen Straßenbaufirmen bei den Arbeiten an der Durchgangsstraße 4 gebraucht wurden. Die »Organisation Todt« und die SS sorgten für die Zuteilung. Wer den SS-Männern für diese Arbeit untauglich erschien, wurde erschossen. Drei Monate kampiert Selma mit ihren Eltern zusammen mit Kranken, Kindern und Greisen unter freiem Himmel. Außer einer dünnen Suppe gibt es nichts zu essen. Die ersten sterben. Das Gelände des Steinbruchs, auf dem die Deportierten leben, läßt das Ausheben von Gräbern nicht zu. Die Leichen werden in die Tümpel an den Ufern des Bug geworfen, Vögeln und streunenden Hunden zum Fraß.
Der einzig erhaltene Brief Selmas aus dem Lager ist heute im Besitz von Frau Schächter-Keren. Ganz winzig zusammengefaltet schmuggelte ihn ein kleiner jüdischer Junge in das nächste Lager, wo die Freundin Renee festgehalten wurde. »Man hält es aus«, schrieb Selma, »trotzdem man immer wieder meint: Jetzt, jetzt ist es zuviel, ich halte nicht mehr durch, jetzt breche ich zusammen ... « Ihre letzten Worte: »Küsse. Chasak - Selma.« Chasak ist Hebräisch und heißt: »Sei stark.«
Renée Abramovici-Michaeli aus Natanya und Else Schächter-Keren trafen sich 1944 in Czernowitz wieder. Die eine war aus dem Lager geflohen, die andere von der Deportation verschont geblieben. Sie tauschten die Hinterlassenschaft ihrer Freundin Selma. Mit Selmas Album im Rucksack schlug sich die Freundin Renée quer durch Europa. Zu Fuß, mit dem Pferdewagen, auf Dächern von Personenzügen, durch Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, durch Osterreich, durch Deutschland nach Paris. 1948 landete sie mit einem Schiff in Israel, in ihrem Handgepäck die Gedichte. Der Koffer, den sie vorausgeschickt hatte, ging verloren. »Mit den Gedichten Selmas hab" ich die Heimat herumgetragen und hierher gebracht.«
Ein Jahr später kam Else SchächterKeren, ebenfalls über Paris, nach Israel. Die beiden Freundinnen sprachen deutsch. Deutsch wurde in Israel öffentlich sehr lange nicht gesprochen. Kein deutsches Gedicht und kein deutsches Lied im Rundfunk, auch wenn es von einem deutschen Juden gewesen wäre. Das Trauma verdrängte auch die Gedichte der Selma Meerbaum-Eisinger. Erst jetzt werden sie auch in Israel wahrgenommen. Der Rundfunk brachte eine ausführliche Sendung über die Gedichte Selmas. Die Universität Tel Aviv reihte die Gedichte in die Veröffentlichungen des Diaspora Research Institute ein.
Gäbe es nicht den Maler Arnold Daghani und seine Frau Anisoara, niemand wüßte, wann und wie Selma Meerbaum-Eisinger gestorben ist. Nur wenige Überlebten die Zeit in Michailowka. Die meisten wurden erschossen, so bald sie nicht mehr arbeiten konnten. Daghani, der heute 71jährig im englischen Brighton lebt, brachte aus diese Hölle ein Tagebuch mit:
»19. Oktober 1942. Sonntag. Mir wur de von Selma Eisinger, achtzehn Jahre alt, das Buch >Das Heim und die Welt von Tagore, das ihr gehörte, versprochen.«
»25. Oktober 1942. Sonntag. ich konnte das Buch nicht bekommen... es wurde inzwischen als Zigarettenpapier verwendet.«
»16. Dezember 1942. Gegen Abend hauchte Selma Meerbaum-Eisinger ihr Leben aus.«
»17. Dezember 1942. Professor Dr. Gottlieb ist an Entkräftung gestorben. Er und Selma wurden zusammen begraben ... «
»18. Dezember 1942. Frau Eisinger hat mir erzählt, daß Selma, bevor sie krank wurde, die Absicht gehabt hat, mit einem Milizmann zu flüchten. Sie erfuhr dies aus einem Abschiedsbrief an sie, der in Selmas Mantel gefunden wurde. Ich erfuhr auch so, daß Selma schöne Gedichte verfaßt hatte.«
Der Tod des Mädchens Selma. Es muß ihrer Mutter und ihrem Stiefvater gelungen sein, die SS-Männer über den Gesundheitszustand ihrer Tochter zu täuschen. Wer in Michailowka wie Selma an Flecktyphus erkrankte, wurde von der SS sofort erschossen. Frau Daghani erzählt, wie Selma mit Fieber daniederlag und leise vor sich hinsang:
»Die Stimme wurde immer schmaler, schwächer. Dann war es still.«
Arnold Daghani zeichnete damals die tote Selma in der Unterkunft. Über eine Leiter wird die in eine Decke gehüllte Leiche von der obersten Plattform eines Bettgerüsts herabgehoben. Das Bild befindet sich in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, wo eine ständige Ausstellung die deutschen Verbrechen an den Juden dokumentiert.
Gäbe es nicht Arnold Daghani, wir wüßten nicht, wie sich die SS in Michailowka einen Spaß daraus machte, wieder und wieder ein paar Juden herauszugreifen und sie zu erschießen. 16 Juden am 29. August 1942, darunter eine junge Mutter mit ihrem Säugling. Die Erwachsenen mußten vorher ihr eigenes Grab schaufeln. Am 5. September ein 18jähriges Mädchen, das ebenfalls eine Grube ausheben mußte, dann hineingestoßen und erschossen wurde. Am 14. September 25 Häftlinge, die vor der Arbeit selektiert und dann erschossen wurden. Am 12. November 107 Zwangsarbeiter, für die im Winter kein Platz mehr in den Scheunen vorhanden gewesen sei, so die Begründung der Nazis.
In Arnold Daghanis Tagebuch, das 1947 in Bukarest in rumänischer Sprache und zugleich in London auf englisch erschien, das unter dem Titel »Laßt mich leben« 1960 deutsch in Tel Aviv herausgebracht wurde, taucht immer wieder ein Name auf, der den Häftlingen Furcht und Schrecken einjagte: SS-Unterscharführer Walter Mintel, der Lagerführer.
Nach meiner Rückkehr aus Israel erkundigte ich mich bei der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, ob es in der Kartei einen Walter Mintel gibt.
Es gibt ihn.
Die Ermittlungen wegen Mordes im Arbeitslager Michailowka liefen seit 1961. Im Jahre 1973 wurde das Verfahren gegen Walter Mintel eingestellt. Eine Spanne von zwölf Jahren zerstörte das ursprüngliche Erinnerungsbild der Zeugen.
Walter Mintel, Vater von acht Kindern, seit 1971 in zweiter Ehe verheiratet, nach dem Kriege Vorarbeiter, ist heute 73 Jahre alt. Als Beschuldigter sagte er aus, er sei nie in Michailowka gewesen.
Jürgen Serke, Oktober 1980