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Selma / OMM.de

31.07.2006 | Selma - In Sehnsucht eingehüllt

"Das ist das Schwerste: sich verschenken
und wissen, daß man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
daß man wie Rauch ins Nichts verfließt."

Als die 17jährige Selma Meerbaum-Eisinger am 23.12.1941 dieses Gedicht schrieb, ahnte das jüdische Mädchen wohl schon ihren frühen Tod unter dem Naziterror voraus. Knapp ein Jahr später, am 16.12.1942, starb sie im Arbeitslager Michailowska. Wie durch ein Wunder konnte der handschriftlich verfasste Gedichtsband Blütenlese von einer Freundin gerettet und nach Israel gebracht werden, wo ihn ein früherer Lehrer Selmas als Privatdruck herausgab. Die Recherchen des Stern-Journalisten Jürgen Serke führten 1980 zu einer Veröffentlichung der 57 Gedichte im Verlag Hoffman und Campe und machten die Dichterin einer breiten deutschen Öffentlichkeit zugänglich.

Das Baseler Worldquintett, eine der Klezmermusik verpflichtete Formation, hat bereits 2003 auf seiner CD das oben zitierte Gedicht „Tragik“ vertont und mit Herbert Grönemeyer als Solisten eingespielt. Die Person Selma Meerbaum-Eisnger dem Vergessen zu entreißen, das Im-Nichts-Verlieren zu verhindern (und damit stellvertretend einem Opfer der Nazi-Tyrannei ein musikalisches Mahnmal zu setzen) war ein Anstoßpunkt; die unmittelbare musikalische Qualität der Texte ein weiterer. Zwölf Gedichte hat das Ensemble für Künstler der deutschen Pop-Szene vertont und auf der vorliegenden CD Selma – In Sehnsucht eingehüllt veröffentlicht. Der Reigen der Interpreten reicht dabei von Xavier Naidoo bis Yvonne Catterfield, von Reinhard Mey bis Ute Lemper, und neben dem Worldquintett mit Klarinette, Flöte, Bass, Klavier und Drums wird (sparsam) das Sinfonieorchester Basel zur Begleitung herangezogen.

Die Kompositionen bewegen sich zwischen dem klassischen Kunstlied, der jüdischen Klezmermusik (mit wunderbaren Klarinettensoli, die Michael Hetzler einfühlsam spielt) und dem Schlager, entwickeln dabei aber einen eigenen, unverkennbaren Stil – obwohl sie von drei unterschiedlichen Komponisten stammen: Dem schon erwähnten Klarinettisten Michael Hetzler, dem Pianisten Olivier Truan und dem Schlagzeuger David Klein (der ein an Robert Schumann erinnerndes Faible für lange instrumentale Nachspiele hat, womit die Gedichte auch eine „absolut-musikalische“ Interpretation erhalten). Und zusätzlich ist jedem der (sehr unterschiedlichen) Interpreten ist „sein“ Lied auf den Leib geschrieben: Dem Liedermacher Reinhard Mey ein schlichtes, nur vom Klavier begleitetes Lied, das dem immer noch kindlichen Staunen, das Meys Stimme ausdrücken kann, ideal gerecht wird; Yvonne Catterfeld wird gnädig vom Streicher-Chorus eingehüllt; Thomas D („Die phantastischen Vier“) bekommt einen sanften, dennoch kraftvollen Rap – und trotzdem entsteht keineswegs ein Sammelsurium, sondern ein in sich geschlossener Liederzyklus, der das Gegensätzliche vereint.

Man mag auf den ersten Blick irritiert sein, ob eine Annäherung an ein Opfer des Holocaust mit den Mitteln des Schlagers angemessen ist. Die CD entkräftet diesen Einwand auf zweierlei Art. Zunächst ist es die unmittelbare Qualität der Kompositionen (und Interpretationen), die ungeachtet des Kontextes die CD unbedingt hörenswert macht. Xavier Naidoo etwa (dessen Musik ich persönlich ansonsten unerträglich kitschig finde) erweist sich als höchst einfühlsamer Interpret des schlichten, fast minimalistisch vertonten melanchlolisch-stillen Gedichts „Spätnachmittag“ – da wäre es zu wünschen, David Klein würde häufiger für den Mannheimer Sänger mit der sanften Stimme schreiben. Olivier Truan hat für Jasmin Tabatabai ein orientalisch koloriertes Lied („Ich bin die Nacht“) frei von folkloristischem Kitsch geschrieben. Ähnlich könnte man für jedes einzelne der Lieder anführen.

Es ging den Künstlern aber auch gar nicht darum, der Verstorbenen unter dem Aspekt der Betroffenheit einen musikalischen Nachruf zu schreiben. „Wir vergessen nicht Selmas Lebensbedrohung. Aber wir sehen sie in unseren musikalischen Interpretationen als eine junge Frau, die ihre Liebe so intensiv lebt, wie es heute die jungen Menschen auch tun.“ hat Schlagzeuger und Komponist David Klein dazu geschrieben. Die Gedichte der Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen aus dem rumänischen Czernowitz (die über einen gemeinsamen Urgroßvater mit dem aus der gleichen Stadt stammenden Paul Celan verwandt ist) sind keineswegs frühvollendet. Die Häufung des Wortes „Glück“ in den Gedichten zeigt eine Nähe zum Wortschatz des deutschen Schlagers, was in den Kompositionen für Sarah Conner, Yvonne Catterfeld oder „Pur“-Frontmann Hartmut Engler auch musikalisch zum Ausdruck kommt. Es ist ungleich authentischer, einer jungen Frau an der Schwelle des Erwachsenwerdens solche Gefühlsäußerungen zuzugestehen und sie in dieser (nur vermeintlich trivialisierten) Form zu vertonen als sie (wie im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Gedichte geschehen) schnurstracks in den Kanon der Weltliteratur zu verweisen.

Ergänzend zu dieser (auf Grundlage des originalen Bandes sehr schön gestalteten) CD hat der Verlag Hoffman & Campe die Gedichte neu aufgelegt. In dem Band Ich bin in Sehnsucht eingehüllt findet man auch weitere Informationen über das Leben der Selma Meerbaum-Eisinger – darunter den seinerzeit im Stern erschienenen Essay von Jürgen Serke (der auch als Herausgeber der Gedichte fungiert). Musikalisch wie außermusikalisch ist hier etwas Großartiges gelungen.

Stefan Schmöe

http://www.omm.de


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